Roman, edition hic@hoc 2013,
geb., 976S. mit einem Nachwort von Herausgeber Helmuth A. Niederle
Gleich vornweg: dies ist kein Roman. Nicht im herkömmlichen Sinn. Dies ist eine gewaltige Textskulptur aus lyrischen und erzählerischen Elementen, geprägt von den Stilelementen des Inneren Monologs, zusammengestellt wie eine vielschichtige Collage aus Splittern und Fetzen, in feinem Strich und auch mit pastos aufgetragenen Farbblöcken. Es ist eine Struktur, einen Zeitrahmen, eine vorwärtstreibende Handlung, aber sie wird als Mosaik angeboten, Steinchen für Steinchen, fein aneinandergereiht und verklebt mit dem für Margarethe Herzele typischen Vokabular.
Dies ist ein Buch, das sich streckenweise am besten in Häppchen liest, als ginge man in einer Ausstellung von Raum zu Raum, und setze sich dazwischen nieder, um aus gewisser Distanz nicht den Überblick zu verlieren. Dies ist ein Text, der zum Dialog einlädt, und man sollte sich darauf einstellen, dass es zu einem Begleiter für längere Zeit werden kann. Satzfragmente oder Gedichte stechen aus der Fülle hervor und lösen garantiert Assoziationen im Lesenden aus.
Dabei sind Sprachmelodie und Satzstruktur durchaus altmodisch, erinnern stark an expressionistische Kunst, an die Textauflösungen, wie sie von der Avantgarde der Zwischenkriegszeit geliefert wurden. Hinzu kommt die Qualität einer weiblichen Stimme, die andere Dinge sieht und benennt als männliche Kollegen.
Die Ich-Erzählerin, Ari/Aretha steckt in einer unglücklichen Ehe, Mutter zweier Buben und eines ätherischen Mädchens, das vom Vater in eine Klosterschule abgeschoben wurde. Ein Bergausflug endet für die Buben tödlich, zeitgleich beginnt die Leukämie der Tochter. Bitterschwarz ist die Ouvertüre dieser Lebenserzählung. Herzele gelingt jedoch extreme Farbigkeit. Sie betont keines der beschriebenen Dramen, sie wählt ein nichtig erscheinendes Detail und präsentiert es mit einer zu Herzen gehenden Lebhaftigkeit. Das Unglück wird zu einem gleichwertigen Teil wie das Lachen. „Mit Hilfe des rebellischen Vollmondes“ trennt sich die Heldin endlich fast gewalttätig von ihrem Mann Charles, mit Wörtern rasend.
Herzeles herausstechende Qualität ist dieser barocke Überschwang, diese Leidenschaft für Zwischentöne und ihre gewaltige Farbpalette. Eine derartige Vielfalt birgt natürlich auch die Gefahr der Redundanz, manchmal führt es direkt ins Manieristische. Aber bevor der Text erschlägt, gelingt Herzele fast immer die Flucht ins Lachen, denn sie hat ein untrügliches Gespür für Situationskomik und den Einsatz des österreichischen Idioms ( „…eine demutsvoll verhuschte Nudel“). Hinreißend sind die Anekdoten aus der Kriegszeit, als Ari/Aretha, noch Kind, versucht, eine Erklärung für die Lage der Zwangsarbeiter zu finden, für sich das Wesen des Bösen kartografiert. Als Geschiedene wird die Heldin einer weiteren Liebe nach Australien folgen (sie hat ein Händchen für die falschen Männer) und in den Siebzigern zurück nach Österreich kommen, überraschend schwanger von Uli, einem gut vernetzten Tausendsassa, der in seinen Gemeinheiten dem ersten Mann lähmend ähnelt.
Manchmal ist das Viele zu viel. Auch die Beschimpfungen, die trotz ihrer Farbigkeit ab einem gewissen Punkt redundant sind, hätten einer Streichung bedurft. Das fällt besonders auch in dem Abschnitt auf, in dem die Erzählperspektive geändert wird (warum eigentlich?) und ein Erzähler dem Mann Uli folgt. In all der Wortopulenz stört dann das Wort „irgendwie“, das auf manchen Seiten hier fast inflationär auftaucht. Manches ist überladen, nicht alle Einschübe und Klammersätze wären notwendig, manchmal wird auch ein Klischee zelebriert (der feine Damenclub in Australien). Schade, dass es nicht mehr Zeichnungen im Buch gibt. Sie sind eine großartige Erweiterung des Textes.
Typisch auch die Großschreibungen, die Zeichensetzung, die mancher Seite geradezu grafische Qualität vermitteln. Nicht immer folgt die Rechtschreibung dem nun gängigen Regelwerk; das scheint Programm und als Verfremdung gemeint. Allerdings wird der Text dadurch aus der Gegenwart herausgehoben, die gepflegte Antiquiertheit, in die Heldin erzählt, wird nur durch ihren Humor, manche Bissigkeit und verschreckende Eingeständnisse ihrer Verstörtheit (z.B. über das Geheimnis, das ihre Eltern umgibt) gebrochen. Was erschreckt, ist die Wut, die Ari/Aretha trotz aller Zärtlichkeit auf die Männer hat, deren Werben sie jedoch immer erliegt. Ihr Leben scheint eine Aneinanderreihung von Katastrophen. Auch die Geburt ihres vierten Kindes ist von einer Tragödie überschattet.
Spannend wird dargestellt, was es bedeutete, sich in den 60-er Jahren scheiden zu lassen, als Frau alleine zu überleben. Ari/Aretha will ja immer Frau und Mutter und Partnerin sein, nicht nur funktionierend, sondern großartig überzeugend. Man liebt sie für ihr Bemühen – und Margarethe Herzele für die feine Verflechtung von Moraldarstellung in das Handlungsgerüst. Die kleine überlebende Tochter, das Überraschungsgeschenk, wird dann auch die Begleiterin in ein neues selbstbestimmtes Leben, als Ari/Aretha entdeckt, dass in ihr mehr steckt als sie sich über Jahrzehnte selber eingestanden hat.
Dieser auffallende Roman ist nicht so sehr eine Auseinandersetzung mit der österreichischen Geschichte als vielmehr mit der österreichischen Befindlichkeit. Eine Frau versucht, sich aus den gesellschaftlichen Einschränkungen zu befreien und trotzdem den Erwartungen ihres Umfelds zu entsprechen. Die Auseinandersetzungen zwischen Frau und Mann spiegeln Zeitgeist und Moralkodex, ein Porträt des vergangenen Krieges im Kleinen. Stadt und Land, Nähe und Ferne: immer werden Gegensätze vorgeführt, selbst stilistisch Verschmelzung und Polarisierung versucht.
Margarethe Herzele hat ein beeindruckendes Alterswerk vorgelegt.
B.K.