Roman
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
C.H. Beck München 2009,
ISBN 978 3 406 59076 4, geb.,127 S.
Poetisch und präzise
Siegtrud lebt als arme Witwe in Reykjavik und empfindet sich als beschenkt. Wie das funktioniert, wenn man nichts hat, wegen einer Missbildung zumindest in der Kindheit und Jugend ausgegrenzt war, ohne den Rückhalt einer Familie, das beschreibt Kristín Steinsdóttir großartig reduziert, liebevoll genau, berührend und gekonnt.
Siegtrud pflegt eine beneidenswerte Zufriedenheit, hat einen Blick fürs kleine Glück und frei zugängliche Feste, verdankt wohl auch ihrer großartigen Ziehmutter diese Mischung aus Charakterstärke, Menschenkenntnis und der Gabe, Zauberhaftes und Schönheit überall zu entdecken.
Da sie nicht nur Zeitungen austrägt, sondern sie auch liest, ist sie über alle mit Buffet ausgestatteten Veranstaltungen informiert, hinzu kommen die generös organisierten Begräbnisjausen, die der Heldin einen nicht unkomischen Einblick in die Gesellschaft gewähren.
Siegtrud weiß wenig über ihre Wurzeln, die Mutter, eine ledige Magd starb bei der Geburt, der Vater war ein wandernder Tagelöhner. Aber da gibt es den Koffer des Großvaters, eines Seemanns, einen Seidenschal und eine amtlich belegte Spur nach Frankreich. Dieses biografische Puzzle wird zum exotischen Anker. Als Pensionistin bricht Siegtrud zu einer bemerkenswerten Reise auf, lernt unverständliches Französisch, stellt sich den Geistern ihrer Vergangenheit und entdeckt sich selbst in ihrer immer größer werdenden Welt.
Mit viel Witz wird ein hartes Leben geschildert, die Einschübe aus der Sicht der Isländerin beschreiben gekonnt indirekt den Wechsel von bäuerlicher Existenz im Norden zur Städterin im Süden.
Steinsdóttirs Gabe, kindliche Erfahrung in poetischer und nie verkindlichender Sprache so präzise und einfühlsam darzustellen, macht dieses Buch zu einem Geschenk für Erwachsene, die eine Antwort auf die wichtigsten Fragen suchen und dabei weder Ratgeber noch esoterischen Pfad wünschen, sondern Literatur vom Feinsten.
B.K.
veröffentlicht in „Die Furche“, Nr. 18, 6.5.2010