Fischer Verlag 2013,
aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens,
geb. 441 S
EIN MÄRCHEN VON BRUDER UND SCHWESTER
Khaled Hosseinis phantastischer Roman von Schuld und Sühne
Über einen Zeitraum von fünfzig Jahren entwickelt sich das berührende Drama zweier afghanischer Geschwister und ihrer Kinder vor dem Hintergrund von Krieg, Flüchtlingsdasein und Immigrantenschicksal. Pari und ihr großer Bruder Abdullah werden von ihrem verzweifelten Vater aus dem Dorf nach Kabul gebracht. Der Winter steht vor der Türe, schon ein Baby der Familie musste sterben. Der Vater trifft eine bittere Wahl und beeinflusst dadurch das Schicksal Vieler in mehreren Generationen. Pari, zu dem Zeitpunkt drei Jahre alt, wird zum Abbild von Hoffnung, Sehnsucht, vergeblicher Erfüllung – und am Ende ihres Lebens zu einer Figur des Lichts.
Khaled Hosseini, 1965 in Kabul geboren, als Kind in die USA gekommen, wo er als Arzt lebt, wurde mit dem „Drachenläufer“ weltweit bekannt. Mit dieser Geschichte vom „Traumsammler“ hat er eine durchgehend überzeugende Symbiose von westlicher und östlicher Erzähltradition erreicht. Schon das Kinderlied, zu dem ihn ein Gedicht der großartigen Iranerin Forough Farrokhzad inspirierte, und das er als eines der Leitmotive verwendet, zeugt von der sprachlichen Qualität des Buches. Hosseini verzichtet auf orientalische Opulenz, bedient sich moderner westlicher Erzählweisen und bleibt trotzdem seiner Heimatkultur treu, indem er traditionell chronologisch erzählt, strikte den Jahren folgt, auch wenn er unterschiedliche Menschen berichten lässt.
Das Buch ist schmerzlich aktuell, ein universeller Roman über Heimatverlust und das Schuldgefühl der überlebenden Vertriebenen. Spannend verknüpft Hosseini das Schicksal internationaler Helfer mit dem der Warlords, der Hilflosen, der Geschäftemacher. Keine noch so nebensächliche Figur in diesem Epos kommt unbeschadet davon. Christentum, Islam und Glaubensabsenz geben den unterschiedlichen Bühnen Farbe, Hosseini hütet sich vor einfachen Polarisierungen. In Frankreich und in Kalifornien agieren Hosseinis Charaktere aus dem Wissen um ihre Wurzeln heraus, das Afghanistan der Eltern und Großeltern wird das Detail, das sie zu sehr speziellen Inländern ihres neuen Zuhauses macht. Und die europäischen Helfer sehen sich damit konfrontiert, dass sie stärkere Gefühle für das Land ihres Einsatzes entwickeln als für die fremd gewordene Heimat.
Es gibt kein Happy End für die brutal getrennten Geschwister, aber Hosseini zeigt, wie versöhnlich es wäre, sich Unbekannten zu öffnen. Die vielen Spielarten der Liebe, die im „Traumsammler“ Platz finden, die leisen Töne, mit denen er sowohl den Kitsch- als auch den Klischeefallen elegant ausweicht, machen diesen Roman zu einem Schmöker, der beunruhigende Fragen zu Politik und Ethik aufwirft.
B.K.
Veröffentlicht in der FURCHE 2013