Roman, Übersetzung Lisa Grüneisen,
Ammann Verlag 2006, 272 S., geb.
Auf der Suche nach einem anderen Leben.
Javier Salinas hat mit „E“ einen neuen Antihelden kreiert.
„Wenn man nicht weiß, wer man ist, kennt man seine Geschichte nicht, und dann kann deine Geschichte jede beliebige sein, nur nicht die eigene.“ E ist ein Mann, der das Geheimnis seiner Eltern zu lüften versucht. Voll Ernst legt er dem Leser sein Problem vor, die Mutter, mittlerweile für ihn nicht mehr greifbar, hat sich, so scheint es, durch Europa reisend, von einem Fremden schwängern lassen. Der Auftakt ist dramatisch, ein tragisches Schicksal scheint E getroffen zu haben.
Aber langsam wird klar, dass Javier Salinas ein groß angelegtes Puzzle ausbreitet, den Leser einlädt, sein Spiel mitzuspielen, dass die Tragödie nie wahr, die Komödie nie wirklich ist.
E bietet einen recht skurrilen Blick auf Europa. Der Leser taucht in eine Unmasse von Geschichten und Anekdoten, die in allen Ländern Europas spielen und in den letzten hundert Jahren stattfinden. Aus dem Alltag heraus, aus einer trivialen Situation wird ein Moment geschildert, der Beginn einer Party, das Spiel kleiner Kinder, ein Augenblick der Erkenntnis in einer psychiatrischen Klinik, die Trauer um die verletzte, die getötete, die verloren gegangene Schwester. Vage schälen sich Gemeinsamkeiten all dieser biografischen Häppchen heraus.
Man will sich auf dieses Leben hinter all diesen Geschichten einlassen und erkennt nach spätestens zwanzig Seiten, dass Javier Salinas seine Leser mit begeistertem Amüsement an der Nase herumführt. E katapultiert sich von einer möglichen Existenz in die nächste, reiht Variation an Variation. Der Ich-Erzähler, zu Beginn noch ein bemitleidenswerter Clown, verwandelt sich in einen souverän agierenden Zweifler, der in jeder Situation das komische neben dem Fatalen entdeckt. Echte Trauer wird nicht zugelassen. Unvermittelt wechselt E die Zeitebenen, wandert von Land zu Land, spielt mit klimatischen, geografischen, politischen Gegebenheiten, als ob sich daraus etwas seinen Charakter ableiten ließe.
Was konstant bleibt: E ist ein suchender Mann, oft von einem Hund begleitet. Er erkennt das Fremde im Vertrauten und er möchte keine Grenzen für sich akzeptieren. Alles ist möglich, solange man selbst im Schrecken das Lachen über sich selbst nicht verlernt, den Glauben an das prinzipiell Freundliche.
Heilsame Einsichten
„Die Zeit räumt mit unseren Jugendträumen auf und macht uns zu farblosen Karikaturen dessen, was wir einmal zu werden glauben.“ Durchaus komisch lesen sich diese angerissenen Bruchstücke, wenn sich auch die Verwirrung über dieses Collageleben nicht legen will. E ist ein Mensch, der jeden Schrecken überlebt, vom Tod nur gestreift wird. Das Bild, das langsam entsteht, ist eine absurde Bestandsaufnahme.
Der Madrilene Javier Salinas, 1972 geboren, studierte in Madrid Recht und spanische Philologie. Er schreibt Lyrik und Romane, „Die Kinder der Massai“ sind 2004 in Deutsche übersetzt worden. Die vorliegende Übertragung von „E“ durch Lisa Grüneisen folgt dem eigenwilligen Stil, der durch pittoresken Satzstruktur des Originals. Salinas schreibt über Hoffnungen, über Ängste. Europa ist in diesem Buch eine verunsichernde Welt seltsamer Männer, verletzter Frauen, kranker Beziehungen, böser Träume, tröstlichen Gelächters. So ganz fassbar wird E überhaupt nie, selbst wenn er über sich selbst, über die Nischen, in denen er vegetiert, lustig macht.
„Ich werde bestimmt mal einer von diesen Alten, die weise wirken, weil sie hohl sind.“ Von einem Krisenherd zum nächsten stolpernd monologisiert E, nie ist sicher, ob er sich noch in unserer Wirklichkeit befindet oder seine Medikamente abgesetzt hat, den Leser lustvoll in schizophrene Gegenwelten stößt.
Farce oder Report?
Javier Salinas bietet viele Rätsel, aber nur verschleierte antworten an. Das ist auf Dauer etwas unbefriediguend. Allerdings verführt er nachhaltig dazu, alles in Frage zu stellen, Zweifel an allem zu hegen. Kein Richtig, kein Falsch, kein eindeutig Gutes, kein beunruhigend definierbares Böses gibt es in seiner Welt. Nichts scheint festgelegt. Wer die eigene Biografie als groteske Hängebrücke in die Vergangneheit betrachten mölchte, wird „E“ bereichernd finden.
B.K.
Erschienen in „Die Furche“ Ne. 21/25.Mai 2006