Roman
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Ullstein Verlag, Berlin 2009, geb., 168 S.
Einer Liebe Abgesang
Atiq Rahimis Roman ist eine erschütternde Klage über Frauenleid
Atiq Rahimi schrieb „Stein der Geduld“ auf französisch, in der Sprache des Landes, das ihm Asyl gewährte, nachdem der 1962 in Kabul geborene Literat während des sowjetischen Krieges aus Afghanistan geflohen war. Er schrieb es zum Andenken an die afghanische Lyrikerin N.A., die von ihrem Mann ermordet wurde. Dass er ihren Namen codiert, kann man als zusätzliches Bild für die versteckten, verhüllten Frauenleben verstehen. Er schrieb mit überwältigender Klarheit, Einfachheit, Poesie über die letzten Wochen im Leben einer Frau, deren Mann ein Taliban ist, tödlich verletzt, verlassen von seinen Waffenbrüdern, in bitterer Armut, Isolation, Hunger und täglicher Gewalt. Er schrieb aus dem Blickwinkel dieser Frau, die keiner beschützt und die für zwei kleine Mädchen zu sorgen hat in einer Stadt voller Marodeure.
Der Mann liegt im Koma, sie füttert ihn über eine Zuckerwasserinfusion. Sie weiß nicht, ob er sie hören kann, sie versteht. Sie betet zu Gott, sie bittet den Mullah um Hilfe. Niemand antwortet. Diesem umfassenden Schweigen ist sie ausgeliefert. Aber bevor sie daran zerbricht, bringt sie die Kinder zu ihrer Tante, einer Verstoßenen, einer Hure. Und sie beginnt, diesem Mann, der sich all die Jahre nicht für sie interessiert hat, von sich zu erzählen. Sie berichtet über das Leben als Ehefrau, die Einengungen, täglichen Gebote, die Tabus, die ihr ein so schlimm beschnittenes Leben bescherten. Sie berichtet aber auch von dem geliebten Schwiegervater, der sie als Mensch wahrnahm und mit ihr redete, ihr Geschichten erzählte, die Welt erklärte.
Als Soldaten in das Haus eindringen und sie bedrängen, greift sie zur einzigen Möglichkeit, die ihr bleibt, um ihren versteckten Mann, das atmende Bündel Fleisch, zu retten: sie prostituiert sich selbst. Trotz der Scham und der Wut, von den Heuchlern dazu gezwungen worden zu sein, empfindet sie den Akt auch als Befreiung. Nun erst erklärt sie dem komatösen Mann, wie sie zu ihren Schwangerschaften kam, welche Wege sich findigen Frauen in ihren Gefängnissen öffnen, um ein Mindestmaß ihrer Wünsche zu erfüllen oder gar, um überleben zu können.
Den mythologischen „Stein der Geduld“ setzt sie gleich mit dem komatösen Mann, der sich nicht wehren kann gegen ihre Lebensbeichte. Oder doch? Die Nähe, die sie mit ihren Berichten über sich selbst erzeugt, die Hingabe, mit der sie die Ihren versorgt wissen will, wird zu einem schrecklichen Abgesang. Das Ende der Wahrheit ist der Tod.
Großartig reduziert Rahimi die Geschichte auf das Wesentliche, trotz der Verknappung wird er dem Leid der Frau, der Erschütterung der Männer gerecht. 2008 erhielt er zu Recht den Prix Goncourt für dieses Buch, das sich wie ein Gedicht der Wut liest und eine mitreißende Klage.
B.K.
Veröffentlicht im Booklet der Furche, Nr. 40, 1.10.2009