DVA 2005,
421 S.
ISBN 3-421-05851-2
Recht auf Fantasie
Ein Buch über die enorme Bedeutung des Lesens für Frauen im Iran
Aspekte der Kunst, die wir im freien Westen permanent unterbewerten: Kunst ist eine funktionierende Zuflucht vor Ideologien - weshalb Regimes Kunst kontrollieren. Und Kunst bietet Auswege an - weshalb Diktatoren Kunst fürchten. Bücher können die Welt nicht verändern. Aber gute Texte können einzelne Menschen dazu bewegen, sich zu verändern – und damit tritt manchmal ein Schneeballeffekt ein.
Mitte der Neunziger Jahre konnte und wollte sich die iranische Literaturprofessorin Azar Nafisi nicht länger der Zensur der Mullahs beugen, sie verließ die Universität und leistete sich den Luxus, donnerstags in ihrer Teheraner Wohnung sieben ihrer besten Studentinnen zu versammeln. Es ging um einen Diskurs zu hauptsächlich westlicher Literatur der klassischen Moderne. „Das, was fehlte, war realer als das, was da war.“ Diese Zusammenkünfte schildert Nafisis Buch „Lolita lesen in Teheran“..
„Eigentlich wollten wir nur über westliche Literatur diskutieren, aber dann begannen wir, über uns selbst zu sprechen und zu schreiben,“ erklärte Nafisi in einem Interview kurz nach Erscheinen des Buches in den USA im Winter 2003. Im Frühling 2004 wurde es bereits im Iran gelesen, mittlerweile findet man es in fast jedem gebildeten Haushalt, obwohl es illegal eingeführt werden muss. „Was wir in der Literatur suchen, ist nicht so sehr die Wirklichkeit als vielmehr das Aufscheinen der Wahrheit“.
Nafisi schrieb kein weiteres Sachbuch, sondern hielt ungemein spannend die Einflüsse fiktiver Gestalten auf das Leben realer Personen fest, ein Phänomen, das wir in freien Regierungssystemen gar nicht richtig nachvollziehen können.
Wie spannend die Arbeit mit Schriftstellern wie Austen, James, Flaubert, Nabokov, Miller oder eben auch der im Iran verbotenen Märchensammlung von Tausendundeiner Nacht war, wird hier zu einem berührenden Zeugnis schwieriger Selbstfindung und gegenseitiger Unterstützung. Denn gerade ein Regime, das die Geschlechter rigoros zu trennen versucht, Ängste voreinander aufbaut, erzieht Generationen zur Heuchelei, Spitzelei, drängt sie zur Flucht in Drogenwelten und unreflektierte Illusionen. Intellektuelle Freiheit, individuelle Würde, weibliche Identifikation – das erfuhren in dem geschützten privaten Raum Nafisis eine Handvoll Frauen, mithilfe der Romane, mithilfe der ausgetauschten biografischen Geheimnisse.
Azar Nafisi kommt aus einer Familie, die seit Generationen schon gebildete Frauen zu schätzen wusste. Das war ihr Glück, denn ihr Vater förderte die Ausbildung in England und den USA. Die schahkritische Familie erlebte Repressalien unter beiden Regimes wie viele andere auch, unterstützte jedoch die Rückkehr der Tochter, den naiv begeisterten Beginn ihrer universitären Laufbahn in Teheran. Als die Lehranstalten die Funktionen der verbotenen Zeitschriften übernahmen, gegen Unterdrückung progressiver Kräfte protestierten, spitzte sich die Lage auch für die junge Wissenschafterin zu. Politik, Tagesgeschehen, die fürchterlichen Jahre im Iran-irakischen Krieg immer in Verbindung mit der gerade vorbereiteten Literatur, dem Lektürespiegel, dieser dichten Verflechtung von Fiktion und Wirklichkeit machen das Buch zusätzlich spannend. “....meine Hand legte sich instinktiv auf den Bauch, wie bei früheren Luftangriffen, bei denen ich schwanger gewesen war. Allein meine Augen taten, als sei nichts passiert und verweilten auf einer Seite von „Daisy Miller“. Die Bombennächte wurden zu Lesenächten, Nafisi stellte sich Fragen über die Natur des Erzählens und warum sich der realistische Roman in ihrem Land nie wirklich durchgesetzt hat.
Die sieben Studentinnen, mit denen sie ihre privaten Diskussionen führte, lehrten sie auch einiges über Realitäten, denen sie selbst nie ausgesetzt war, tyrannische Brüder, feige Väter, Zwangsheirat und Hinrichtung. „Die Zelle, in der Razieh und Mahtab fast fröhlich über James und Fitzgerald sprachen, ungewiss, ob sie überleben oder sterben würden, war wahrlich nicht der Ort, den ich mir für sie und meine Lieblingsromane gewünscht hatte, meine wertvollen Sendboten aus jener anderen Welt. Ich denke an Razieh im Gefängnis, an Razieh vor dem Exekutionskommando, vielleicht in derselben Nacht, in der ich „Der lange Abschied“ und „die Damen aus Boston“ las.“
Zusätzlich zu den Mauern, die von den Mullahs errichtet wurden, kam nun neben steigender Arbeitslosigkeit ein Gefühl großer Erschöpfung, das viele junge Leute lähmte. Ein derart reglementiertes und überwachtes Leben können sich westliche Jugendliche gar nicht vorstellen. Wie sehr das Ergebnis der letzten Wahlen im Iran die gebildete Schicht schockiert und verstummen lässt, wird ebenfalls durch die Lektüre dieses Buches leichter nachvollziehbar.
Literatur ist vielschichtig zu deuten und hat immer mit uns zu tun – schon allein deshalb sollten wir Saturierten und Ungefährdeten Azar Nafisis spezieller Entdeckung des Lebens folgen.
B.K.
Furche34/25.8.2005