Suhrkamp Verlag 2006, 117 S.
ISBN 3-518-41824-6
Mikadospiel
Keine dramatische Geschichte, aber Glück, das man erlesen kann.
Die Kastanorka ist ein Tier, im Leben der jungen Heldin verankert, eine alte Schildkröte, eher zufällig in diesem nach Aufbruch riechenden Haushalt irgendwo in Berlin existierend. Die Kastanorka teilt das Wachen der Erzählerin, unbewegt von deren Zweifeln und der so spielerisch gewälzten Sinnfrage sucht sie die Wohnung ab nach ihren geliebten Spitzwegerichblättern. Es ist ein friedlicher Sonntag Morgen in einem Schlafzimmer mit Blick auf den Berliner Zoo. Neben der Heldin träumt noch der zärtlich betrachtete Liebhaber. Auf der Bettdecke liegt ein Satz Mikadostäbchen, das rituelle Spiel der jungen Frau, eine Metapher für das Chaos, die Rolle des Zufalls im Leben schlechthin.
Ein Jahr ist vergangen seit dem Attentat auf das WTC. Der Fall der Mauer hat das Leben der Erzählerin genau in der Mitte in ein Davor und ein Danach geteilt. Ihre Vergangenheit orientiert sich an großen politischen Ereignissen, ihr Leben richtet sich nach Menschen aus. Da gibt es den alten, aus Wien geflohenen Juden Leo in New York, dessen Telefonate zu unmöglichen Tageszeiten zu Lebenshilfen und Wortgeländern geraten. Da gibt es in der fernen sibirischen Steppe Toma, die tatarische Nomadin, deren Auftauchen an den seltsamsten Orten mit Liebe, mit unbändiger Lebenslust und Neugier zu tun hat. Eine verlässliche Freundin, auch wenn der Kontakt sich auf sporadische Telefonate beschränkt. Da gibt es die Anekdoten aus der eigenen Kindheit, eingebettet in ostdeutsche Alltagsgeschichte, so berührend dicht, so anrührend und direkt geschildert. Da gibt es das Mikadospiel, mit dem sich die Heldin die Zeit nur vordergründig vertreibt. Was sie wirklich in ihrer winzigen Wohnung quält, ist die Frage, wie sie ihre Zukunft gestalten soll, was Zeit bedeutet und wie man sie nutzt. Die Antwort sucht sie bei den Freunden, vorsichtig auch in ihrer Liebe zu dem Mann, der ihr Bett teilt, dem sie aber den Großteil ihrer Geschichte vorenthält.
Seit mehr als zwanzig Jahren schenkt uns Angela Krauß schillernde und dichte Texte.1950 in Chemnitz geboren, studierte sie an der Fachhochschule für Werbung und Gestaltung in Berlin, arbeitete dort für Messen und Ausstellungen. 1988 machte sie als Gewinnern des Ingeborg-Bachmann-Preises eine breite Öffentlichkeit auf sich aufmerksam. Mit „Wie weiter“ präsentiert sie nun eine Novelle aus strahlenden Vignetten und Miniaturen.
„Das Dasein wird weiter, je länger es dauert,“ prophezeit Leo, dieser seltsame platonische Freund, den Angela Krauß so wunderbar indirekt beschreibt, dass man ihn für sich selbst zum Freund wünscht. In dieser Geschichte passiert nichts wirklich Dramatisches, doch die Sätze sind von bezaubernder Klarheit und bestechender Prägnanz. Angela Krauß schafft es, uns das Glück der Suche und einer Erkenntnis als ein Glück, das man erlesen kann, darzustellen.
B.K.
Veröffentlicht in Die Furche Nr. 27/5.Juli 2007