Roman, Hoffmann und Campe,
Hamburg 2007,
geb., 189 S.
Warten ein Leben lang
Andrei Makine erschafft ein literarisches Gemälde
Die Siebziger Jahre haben begonnen, ein Hauch von Freiheit macht sich kurz in den sowjetischen Großstädten bemerkbar. Direkt von einer Party in einem Leningrader Künstlerkreis verlässt ein junger Mann seine zaghaft aufblühende Lebensnische voll verbotener Westautoren und rebellischer Lyrik gegen Breschnews urgeschichtlichen Kremlzoo, garniert mit ersten Versuchen im Ausprobieren freier Liebe und abwägend zelebriertem Austausch mit Westjournalisten. Er übernimmt die Betreuung einer pseudowissenschaftlichen Arbeit in der Gegend von Archangelsk, flüchtet vor dem, was er zu kennen meint.
Das weite Land der Vertriebenen und Verlassenen öffnet sich dem 26-Jährigen. In den Dörfern warten alte Frauen dem Tod entgegen, junge Menschen wollen nur weg von dort. Es gibt keine alten Männer: sie alle sind vor Jahrzehnten im Krieg gefallen oder in Lagern verschollen.
Der junge Mann richtet sich ein in einem aufgegebenen Haus in dieser verlassenen Tundra, sucht den Kontakt zu den Witwen, die ihm bei seiner ethnologischen Untersuchung helfen könnten. Die Mischung aus Einsamkeit und Schönheit der Landschaft erschlägt ihn fast.
Einfach Liebe
Die Lehrerin Vera, unverheiratet und um die vierzig, wird die Führerin in diese Welt versteckter Menschen und gehüteter Geheimnisse. Sie wird vor allem aber die Frau, die alle schnell gefassten Meinungen und Vorurteile des jungen Mannes (wir erfahren seinen Namen nicht,) nachhaltig zerstört. Ihre Sinnlichkeit und Fröhlichkeit straft alle Mythen, die sich bereits um ihre Person ranken, Lügen. Ihre Bildung und Offenheit verbieten Schubladendenken, ihre Güte und Selbstsicherheit helfen auch durch angstvolle und peinliche Momente. Das Leben den jungen Leningraders wird nach diesem Jahr in Sibirien und vor allem wegen dieser faszinierenden Frau für immer verändert. Sie ist weder Penelope, treu und sich listig interessierter Männer erwehrend, noch Andromache, trauernd als Witwe dem Toten auf immer ergeben. Sie ist eine neue Archetype, die vage an alte Göttinnenbilder erinnert.
Andrei Makine, 1957 in Sibirien geboren, seit zwanzig Jahren in Paris lebend, ist hier eine ergreifende Studie geglückt über unmögliche Liebe, wahre Schönheit und vergessene Menschen am Rande der Welt. Holger Fock und Sabine Müller haben in bewährt gelungener Weise Makines sparsame und berührende Sprache ins Deutsche übertragen. „Die Frau vom Weißen Meer“ ist ein Buch, das den bisherigen Erfolg des Autors nur bestätigt: reiner Gewinn und stille Freude für Lesende, die sich gerne überraschen lassen.
B.K.
Veröffentlicht in der FURCHE 2008