Ariadne im Argument Verlag 2014, Tb, 284 S.
Lena hat Glück, denn eine wohlsituierte Freundin verreist und braucht dringend jemanden, der ihre Wohnung betreut. Lena genießt daher eine helle Zuflucht mit Balkon und einem hinreißenden Blick über die Dachlandschaft des zentralen Wien. Ein perfekter Zufall für die junge Frau, die sich mit Gelegenheitsjob schlecht über Wasser hält, neu angekommen in einer Stadt, die ihr noch fremd ist.
Also feiert sie alleine auf „ihrem“ Balkon mit einer Flasche Wein und einer Prise Gras. Nicht weit entfernt entdeckt sie auf einem anderen Dach einen Mann und zwei Frauen, offensichtlich auch beim Feiern. Plötzlich ist die eine Frau verschwunden. Und Lena weiß nicht, wurde sie gestoßen, ist sie gesprungen oder doch einfach nur zurück ins sichere Haus gegangen? Denn keine Reaktion erschüttert das Paar. Was hat Lena gesehen, was bildet sie sich ein?
Aus dieser geradezu klassischen Ausgangssituation entwickelt Anne Goldmann eine aufregende Spurensuche, ein Psychogramm, das erschreckt, eine Spirale scheinbar alltäglicher Gewalt. Alles passiert, und das bringt die Geschichte so faszinierend nahe, im dichten Häusergewirr der Altstadt, ohne dass Touristisches auch nur gestreift wird, in einem Wien der Wiener, atmosphärisch dicht, ohne Sehenswürdigkeiten und Denkmalpflege. Und trotzdem erfährt man eine Menge über Wiener Leben und Fakten, in der österreichischen Hochsprache, die sich einer anderen Melodie unterwirft als das deutsche Deutsch, ohne sich dialektischer Regionalvarianten zu bedienen. Lena heißt eigentlich Milena, was in Wien für einfache Gemüter eine aus dem Osten Hinzugezogene implementiert, für Belesene jedoch sofort eine Verbindung zu Kafkas Geliebter auslöst. Dieses Doppelbödige macht einen weiteren Reiz des dicht erzählten Romans aus. Anne Goldmann inszeniert ihre Figuren zwar in einer großen Stadt, baut jedoch ein Kammerspiel auf rund um diese junge Frau, die, von Enttäuschungen geprägt, nicht wirklich bindungsfähig ist und doch auf erfrischende Art naiv.
Denn Lena kann das Verschwinden der Frau vom Dach nicht verdrängen. Sie geht damit ihren neuen Freunden auf die Nerven, sie sucht Fakten, die ihre Angst begründen können, sie findet Widersprüche, die ihr Kraft geben, vor allem, als sich eine Sozialarbeiterin meldet, die die verschwundene Frau vom Dach selbst verzweifelt sucht.
Nebenher hat Lena endlich beruflichen Erfolg, entscheidet sich für einen Liebhaber, entdeckt freundliche Nachbarn. Was wie eine erfreuliche Entwicklung klingt, liest sich jedoch nicht so. Anne Goldmann schafft es, einen beunruhigenden Ton einzumischen. Misstrauen wächst, selbst Georg, der ihr langsam wirklich ans Herz wächst, reagiert auf ihre Spurensuche verdächtig.
Und während klar wird, dass Lena in Gefahr gerät, führt Anne Goldmann in überzeugenden Short Cuts den Mörder heran, wird die Bühne, auf der Lena langsam heimisch wird, in immer erschreckenderes Licht getaucht. Sehr lange ist nicht klar, wer für Lena tatsächlich bedrohlich ist, und selbst, als Anne Goldmann dieses Rätsel preisgibt, hält sie die Spannung weiter hoch, weil Lena direkt in die Falle läuft.
Ein besonderer Kriminalroman, der subtil den Gefühlsmix aus Fremdsein, Angst und Überrumpelung einem bizarren Mörderspiel beimengt.
B. K.
Veröffentlicht auf www.crimechronicles.co.uk