Gedichte. Zsolnay Wien 2002
NEUE TÜREN, OFFENE FENSTER
Lyrik und ihr gesellschaftlicher Stellenwert. Eine essayistische Annäherung an Evelyn Schlag
Der neue Gedichtband von Evelyn Schlag liegt vor : Brauchst du den Schlaf dieser Nacht, von Zsolnay sorgfältig herausgegeben und liebevoll inszeniert. Es geht, wie immer, bei dieser leisen und so sehr überzeugenden Lyrikerin, um Liebe, Liebe zu einem, dem ganz bestimmten Mann,
- Wir sind immer erst kurz/ Verheiratet als hätten wir uns/ Spät kennengelernt nach allen/ Fehlern und wüssten besser als/ Die anderen was Liebe ist Liebe/ Nur zwischen zweien die/ Immer im vollen Licht stehen, -
Auch wenn sie 1999 wie von ungefähr in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Anton Wildgans-Preises Thoreau als Beispiel dafür nimmt, wie man in der Reduktion Fülle, in der Zurückgezogenheit Weite erleben kann, worin sie ihm absolut ähnlich ist, so ist sie es doch ganz und gar nicht in ihrer Betrachtung des Einzelnen. Thoreau hat sich viele Gedanken über das menschliche Gemeinwesen gemacht, aber den allzu nahen Umgang mit Menschen nicht geschätzt. Evelyn Schlag, die sich hinter ihrem Werk versteckt und vor all zu großer Neugier schützt, kann doch ihre Menschenfreundlichkeit nicht verleugnen. Sie ist engagiert, auch wenn sie versucht, die Person Schlag aus der Betrachtungsweise der Dichterin Schlag herauszuhalten.
So ist nicht nur die Liebe zu einem Mann, sondern auch zur Natur der Autorin ein Anliegen. Evelyn Schlag liebt es ebenso, Menschen an unterschieldichen Orten zu beobachten, die Essenz ihrer Bewegungen, Köpersprachen, Botschaften zu analysieren und zu komprimieren.
Evelyn Schlag setzt sich mit diesem Schauen gleich in mehrfacher Weise auseinander: sie überträgt nicht nur englischsprachige Dichter, sie analysiert Lyrik anderer, um dem Modus deren Schauens auf den Grund zu kommen.
Ihre eigene Lyrik jedoch ist näher der Grundhaltung Thoreaus als der Arbeit z.B. eines W.C. Williams oder der vielen anderen dichtenden Ärzte, die sie zum Teil in ihren Grazer Poetikvorlesungen 1993 vorstellte. Denn sie verwendet zwar ihre eigene Biographie, ihre eigenen Erlebnisse, ihre Umwelt, ihre Reisen als Transportmittel. Sie reduziert jedoch die Welt auf den eigenen Blickwinkel, wie das Thoreau getan hat, wie das Douglas Dunn, den sie kongenial ins Deutsche übertragen hat, getan hat, jedoch nicht die Anekdotenhaftigkeit eines W.C. Williams, der seine Patienten anzapfte, deren Geschichtchen verwendete als Materiallieferanten, als Okulareinstellung auf die Menschen rundherum. Evelyn Schlags Leben in der Dichtung ist eine vom Brotberuf – sie unterrichtet - völlig abgetrennte Existenz. Als wäre da eine Mauer, eine Haushofer´sche Wand, die beschneidet und trennt.
Diese Distanz einem Teil der eigenen Biographie gegenüber kann ich partiell verstehen, ein Schutzmechanismus den Schülern und sich selbst gegenüber, eine Ausklammerung des Bereiches, den man bewusst im eigenen Werk nicht wiederfinden will. Damit versagt sie sich jedoch das Anzapfen einer Quelle, die ihr bei den Ärzten empfindlich wichtig erscheint. Sie reduziert das Schauen und die Übertragung des Analysierten in konzentrierte Sprache auf sich selbst. Sie macht einen Teil ihres Seins öffentlich.
Sie arbeitet, vergleichbar einer Valie Export mit ihren Körperkonfigurationen, einer Elke Krystufek beispielsweise in der Serie Chelsea Light, mit dem eigenen Körper, den eigenen Erfahrungen, um Kunst zu schaffen, Umstände darzustellen, das persönliche Erleben zu abstrahieren, zu verfremden, in die richtige Form zu bringen, kreiert es zu einer für andere gültigen Aussage.
Körper als Werkstoff.
Bei Malerinnen ist es die Außenhaut, deren Abbild überstrichen, in Stellung gebracht, inszeniert, in einem wohlüberlegten Gegenüber zu anderen sichtbaren Dingen für den Betrachter zum Objekt gemacht wird. Er erkennt eine Konstellation, die im besten Fall Schock, Aggression, Trauer, Freude, befreiendes Lachen durch den visuellen Reiz in ihm auslöst.
Die Dichterin muss anders verfahren. Ihr Kunstmittel ist weniger auffallend, nicht so spektakulär einsetzbar, wird nicht im Vorübergehen absorbiert. Die Annäherung an ihr Werk muss bewusster geschehen.
/Ich sollte etwas lernen aber was es/ War zeigte sich noch nicht/ Es zögerte als gehörte das dazu/ In diesen sich öffnenden Sekunden/ In denen Platz für das Fremde war/
Glaubt man Lektoren und Vertrieben, so ist es eine verschwindend kleine Handvoll, unwichtig fürs Geschäft, belastend fürs Budget, ein Grund zu jammern für die Finanzabteilungen der Verlage. Eigenartigerweise schrumpft die Anzahl der Leser jedoch nicht. Offensichtlich wachsen immer neue Nutznießer, heran, so wie die Anzahl der Lyriker nicht abnimmt.
Was beweist das? Gar nichts, sagen die Analytiker, denen große Zusammenhänge und die „wirklich wichtigen Dinge“ am Herzen liegen. Verdichtete Sprache gehört nicht dazu. Warum greifen dann, selbst in der Ersten Welt, deren Bewohner bekanntermaßen keinen so breiten Zugang zu lyrischen Bildern und Metaphern pflegen wie anderswo, immer wieder Menschen zu Gedichtbänden? Warum ist das Gedicht als Formel für Gefühle und Zustände immer, wirklich immer!, in Diktaturen präsent und von Tyrannen gefürchtet? Warum bleiben uns einzelne Verse im Gedächtnis, tröstend, aufrichtend, hilfreich? Die Lieder des Untergrunds und der Unterdrückten verlieren sich schnell in der sogenannten freien Welt.
Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir zwar vordergründig frei leben, uns jedoch den Gesetzen des Geldes unterwerfen, das Märchen vom Goldenen Kalb mit Begeisterung tanzen. Diese zwei Bereiche, die Welt des Wortes und die Welt des Geldes scheinen einander auszuschließen.
Wir mögen in unserer virtuellen Welt auf viele Facetten des Sprachgebrauchs bewusst und kurzsichtig verzichten, freiwillig amputieren, - bis wir quasi in einer Ausnahmesituation ein Buch aufschlagen, in einer Zeitung, im Internet bei einem Gedicht innehalten, im Radio, im Film eine Rezitation hören. Jemand hat dem, was wir fühlen, aber nicht in Worte zu verpacken imstande sind, die passende verbale Form verliehen.
Ein anderer Mensch hat uns seine Sprache zur Verfügung gestellt, seine Erfahrung mit uns geteilt. Eine öffentlich gemachte Darbietung, die wir manchmal sofort vereinnahmen, auf jeden Fall aber selten als das Geschenk ansehen, das es ist.
Künstler sind exhibitionistisch, das liegt in der Natur ihres Anliegens. Aber da ist auch mit ein Grund, warum Künstler so oft so verletzlich sind, die Öffentlichkeit fürchten: sie stellen ihr Innenleben zur Schau für alle diejenigen rundherum, die in ihrer Wahrnehmung, in ihrem Ausdruck gefesselt, behindert, benachteiligt sind.
/Immer wieder steht jemand nachts/ Mit seinem Geistern im Garten/ Faßt nach den Enden des Tuchs/ Das den Himmel faltenlos spannt/
Mostviertelhügel
„Schreiben ist Ausatmen, Ausstoß...“ sagt Evelyn Schlags Alter Ego in der Erzählung „Die Kränkung“, 1987 erschienen, in der sie sich gekonnt mit Katherine Mansfield als Schreibender und Schwerkranker auseinandersetzt.
Sie stellt uns Quintessenzen zur Verfügung. Ihre reduzierten Ausblicke können leicht erlesen und übernommen werden. Ihr fehlt die überbordende Exotik eines Derek Walcott, dessen gesellschaftliche Anklagen farbig und brillant, schmerzhaft in den Zeilen lauern, Fäulnis im Herzen der Inselträume.
Evelyn Schlag dagegen:
/Wenn ich dir sage die Landschaften in/ Fremden Gedichten sehen immer größer aus/..... /Wenn ich dir sage ich lerne so langsam ich/ Brauche Jahre um unsere Landschaft zu sehen/
Wie nahe steht sie hier Thoreau, oder, um im selben Sprachraum zu bleiben, einem Thomas Rosenlöcher. Wie sehr erinnern ihre Genrebilder an Siegfried Anzingers frühe graphische Annäherungen an die Mostviertelhügel, an seine zahlreichen Gouachen über Heuwagen in den Neunzigerjahren, jede für sich ein Gedicht in Farbe, den Betrachter hinzwingend zum Schauen. Es geht darum, das Detail zu erfassen, um das Ganze zu sehen.
Evelyn Schlag fehlt der distanziertere Blick einer Wislawa Szymborska, die aus einem Okular die Welt zu betrachten scheint und deren bestechende Bilder trotzdem berühren und wehtun. So arbeitet Schlag nicht. Sie bietet sich an, ihre Verwundbarkeit, ihren Sinn für Ironie und ein breites Lächeln über Eitelkeiten (z.B. in dem Gedicht Die Stimmen der Dichter in Lissabon) , ihre Erinnerungen ( z.B. in Mythologien und Teddybären), ihre Liebesfähigkeit und Liebeserfahrung vor allem.
In sorgsamer Bedächtigkeit führt sie uns heran an das, was wir sehen und nicht benennen können, ersingt das Land ringsum und in uns. Der Leser atmet die Erfahrung der Schreibenden ein, wobei sie trickreich und gekonnt mit Zeilenumbrüchen und syntaxaufhebenden Pausen arbeitet. W.C.Williams Überzeugung „Das Lokale gebärt das Universelle“ hat sie vollkommen verinnerlicht.
Genauso geht sie jedoch auch an fremde Landschaften heran. Es wird atemlos der Bezug zur eigenen, zur geliebten Person hergestellt, die Eindrücke werden sprunghaft an der Topographie festgenagelt, nur vordergründig ist die Auswahl. Ein kaleidoskopisches Sehen in konkreten, eng begrenzten Ausschnitten mit auffallend wenigen Adjektiven klar umrissen. Momentaufnahmen, englische Satzfetzen aus Taxis, verbale Streiflichter, – und diesmal ist es nicht Petrarca, der die Trennung besingt, diesmal kommt Laura zu Wort, eine Verlassene und eine Verlassende zugleich:
Du weißt noch wie ich flog/ Über London nach Washington/ Mein Herz war ein Kolibri/ Genau über deiner Stadt/
Viele Gleise…
Warum eignen sich Evelyn Schlags Gedichte so sehr dafür, aufgepfropft zu werden auf eigene Empfindungen? Ich habe mir die Freude erlaubt, - völlig unwissenschaftlich und statistisch absolut irrelevant -, fünf Frauen, unterschiedlich alt, in unterschiedlichen Berufen und Verhältnissen, mit unterschiedlich verbautem Zugang zur Lyrik, jeweils drei Gedichte zu mailen und sie zu fragen, ob sie sich wiedererkennen. Ich ließ ihnen außerdem praktisch keine Zeit, sich mit den Versen zu beschäftigen. Das Echo erstaunte mich, begeistert mich noch immer.
Es wurden Erinnerungen wachgerufen, sie sprachen, nein, mailten über Empfindungen, für die sie so lange nach den richtigen Wörtern gesucht hatten, sie redeten über Männer an verschiedenen Orten, diffuse Geschichten, die sie neu überdachten, weil irgendein Wort in einem der Verse sie darauf gestoßen hatte. Es hatte nichts mehr mit dem lyrischen Ich zu tun. Aber sehr viel – trotz allen Gelächters und aller Anekdotenhaftigkeit, auch einer gewissen Bitternis – mit Evelyn Schlag.
Alles Ornamentale, alles, was Sprache im Prinzip verdunkelt, sollte von Schreibenden abgelehnt werden, damit für die Lesenden Klarheit herrscht. Denn Metaphern und Similis, Wortkonstellationen verbinden sich im Kopf des Rezipienten mit dessen Erfahrungen und gespeicherten Bildern und führen so zu einem Paralleltext.
Ich stelle mir das immer wie einen Kopfbahnhof vor. Das Originalgedicht, die ursprüngliche Geschichte stellt ihn dar. Viele, viele Gleise führen hinaus, dicht beieinander zu Beginn, sich rasch verzweigend, unterschiedlichen Zielen entgegen. Der Ausgangspunkt ist allen gleich. Das Ende ist variabel. Darum bedeutet ja jedes Buch jedem etwas anderes, evoziert Lyrik, selbst wenn sie programmatisch ist, unterschiedliche Bilder.
Jeder von uns verwahrt lyrische Bruchstücke, seien sie aus einem Kinderlied, aus einem Song einer heftig verehrten Band, einem Gebet, zum Klischee verkommen und abgenützt wie es manchen Gedichten von Erich Fried oder Hermann Hesse passierte -. Mit den Jahren verstummten sie, wurden unwichtig, um plötzlich wieder aufzutauchen. Alte Bekannte, die wir nun in einem anderen Licht betrachten, denn unser Blickwinkel hat sich verschoben, unsere Erfahrungen haben uns geprägt. Die Vorstellung von uns als Jugendliche, als junge Menschen ist gekoppelt mit diesen Texten, strahlenden Schwanengesängen, die wir auf einmal als Ausgangspunkte erkennen, keine Weichenstellen, aber Kennzeichnungen und stimmige Darstellung individueller Befindlichkeiten. Kino also im Kopfbahnhof.
Evelyn Schlags neuer Gedichtband ist jedem zu empfehlen, dem dieses Vexierspiel mit der eigenen Biographie nicht unbekannt ist. Es ist nicht die Faszination an der Vernetztheit, die Gleichzeitigkeit so vieler an so vielen Orten, derer sich die Autorin annimmt, sondern der Augenblick der Öffnung:
Ich wünsche mir einen Voyeur/ Wie Vermeer so diskret/ Der seine Scham mit ins Bild malt/ Wenn er mir zusieht/ wie ich die Briefe lese/
Und dann das Schließen des Schirms, dieses willentliche lautlose Wegtreten:
Und mit dem eiligen eiligen Druck/ Meines Fingers den Brief und/ Mich selbst verschwinden lasse/
Auch hier begeistert die Subtilität ihrer Zeilenumbrüche, die Art, wie sie Pausen setzt, Wortgefüge zerlegt. Sätze werden auch physisch empfunden. Der Mensch ist ein Sprachhaus und Evelyn Schlag findet neue Türen und offene Fenster dafür.
B.K.