Literarische Lebensrezepturen
Performance Beatrix M. Kramlovsky, 15.9.2005 um 17.00
22 Meter langes Leinentuch, Titel "Ein Leben - österreichische Essensgewohnheiten", beschrieben und bemalt mit Tusche, Rotwein und Tee
Im Rahmen von
MITDENAUGENESSEN führte vor, wie sehr unsere Bedürfnisse visuell angenommen und kommuniziert werden. Ein Zuviel an Aufnahme impliziert möglicherweise auch ein Abgeben, Genuss kann zum Überdruss, mutieren, pervertiert werden.
MITDENAUGENESSEN sprach ein weitgestecktes Feld der Sinne an und stellte mit Nachdruck die Verbindung von Kunst und Energieaufnahme dar.
MITDENAUGENESSEN umfasste aber alle Sparten des visuellen Konsums, die sich in unserem Umfeld positionieren konnten. Und hier begann nicht nur die künstlerische Auseinandersetzung, sondern auch der für Soziologen und Philosophen interessante Aspekt.
und die künstlerische Auseinandersetzung damit
Das Thema VISUELLER APPETIT wurde spartenübergreifend mit der bildenden Kunst als Basis, auch in der Musik, in der Literatur, im Tanz, im Film und in der Kulinarik zelebriert.
Es ging, wie immer bei Kunst, darum, zu provozieren, zum Nachdenken anzuregen, zu Reflexion und Änderung. Kunst ist nie nur Bestandsaufnahme, sondern spürt Strömungen auf und thematisiert innovative Gedanken.
Das multimediale Kunstevent MITDENAUGENESSEN startete am 25.8.05 mit das trinken schmecken in der Orangerie des Schlosses in Eisenstadt, wanderte mit das schmecken sehen in die Landhausgalerie Ausstellungsbrücke nach St. Pölten und endete am 3.Okt im Freiraum des Museumsquartiers in Wien mit Begehren und Überdruss.
KURATORIN: Mag. Sylvie Proidl
DAS TUCH VOM HUNGER Literarische Lebensrezepturen
Als Aperitif die Zeugung
Während der Performance wurde das Tuch langsam entrollt, von der Künstlerin in Kellnerschürze vorgetragen und auf der Freitreppe zur Ausstellungsbrücke aufgelegt. Das Publikum saß auf bequemen Lederfauteuils und kam am Ende, selber lesend und diskutierend, hinauf in die Ausstellungsräume, wo das Leinen später an der Wand aufgespannt wurde.
Ein durchschnittliches österreichisches Leben von 75 Jahren beinhaltet, sieht man von Notzeiten ab und ich berechne hier wenig während der Kriegsjahre und für die Hälfte der Besatzungszeit nur ein Essen pro Tag, mögliche 74.000 Mahlzeiten. Selbst wenn wir sehr kurze Essenszeiten, alles andere als genießend, für die Nahrungsaufnahme berechnen, hätte diese fiktive Fünfundsiebzigjährige heute ca. 780 Tage, also etwas mehr als zwei Jahre ihres Lebens mit Essen verbracht. Ihr Taufessen wird sie verschlafen haben, aber sicher wurde sie länger als fünfundvierzig Minuten in 24 Stunden gestillt. Sie hat Weihnachtsessen, Osterschmäuse, Geburtstagsfeiern, Gedenktage und gesellschaftliche Höhepunkte miterlebt. Sie hat Hochzeitstafeln kennen gelernt, zumindest ein Muttertagsfrühstück über sich ergehen lassen, die familiären Höhepunkte mit einem speziellen Essen gewürdigt. Sie war vermutlich eingeladen zu privaten und öffentlichen Festen und der eine oder andere Leichenschmaus wird sie auch an das eigene Ende erinnert haben. Berechne ich das nicht allzu exzessiv, sondern nach Rücksprache mit mehreren älteren Herrschaften, dann kann ich für dieses Lustessen nochmals 1875 Tage berechnen und sie können mir glauben, ich habe immer die kleinste Möglichkeit in Betracht gezogen, also nochmals fünf Jahre abgerundet. Ihre fiktiven Kinder und Enkelkinder, ebenfalls in Österreich lebend, werden diese Lebensessenszeit um einiges länger haben, denn es geht uns gut.
Diesem knappen Zehntel, das die Fünfundsiebzigjährige mit Essen verbracht hat, widmet sich dieses Tuch vom Lebenshunger. Es verzeichnet eine Biografie anhand von Festmählern, von Speisen, die traditionelle Bedeutung haben, denn das Leben kann auch als Tafeltuch gesehen werden, das sich zum Leichentuch hinentwickelt.
Und wie hat sich doch die Essenskultur verändert! Asiatisches und amerikanisches Fastfood, neue Einwanderergruppen, die unsere Küche nachhaltig beeinflussen, neue Moden und Einsichten, die Kochgewohnheiten variieren. Österreichs Geschichte war und ist immer auch eine Geschichte des Essens, wobei ich mich um die soziologischen Hintergründe jetzt gar nicht kümmern will. Ich erzähle ein Leben anhand von Rezepturen und themengebundenen Anekdoten. Ich erzähle von der Wichtigkeit einer bestimmten Jause, der nachhaltigen Wirkung eines Picknicks, dem versöhnlichen Lachen beim Digestif, den Beilagen des Lebens, die zu historischen Treppenwitzen führen können, den Tafelfreuden schlechthin, die uns, unsere Gewohnheiten, unsere Traditionen, unser Land widerspiegeln.
Rezeptsammlungen sind auch die friedliche Vereinnahmung fremder Kulturen.
Essen, nicht nur, um zu überleben, sondern, um etwas zu feiern. Was sagt das über uns aus? Traditionelles als wieder erkennbarer (und schmeckbarer) Anker, Geschichten rund ums Kochen und Essen als biographische Spurensuche eines Landes.
Als Installation ist das Tuch vom Hunger jederzeit buchbar. Auf langen Heurigentischen aufgebreitet, mit ausgesuchten Geschirrteilen, abgenutzter Tischdekoration, die als Zitate verwendet und abgewandelt ist, und unterschiedlich platzierten Stühlen wird eine Tafel aufgebaut, die an die Minuten nach dem Aufbruch der Gäste erinnert. Erforderliche Länge des Raumes: 30 Meter.